Das Netzwerk der Köche

Das Netzwerk der Köche

Noch vor 20 Jahren war die erste Tätigkeit eines Küchenchefs in der Gastronomie, gleich nach dem Aufwachen, einen Fluch loszulassen, dass man wieder zu wenig Schlaf bekommen hatte. Danach wurde der Körper mit einem Kaffee auf Betriebstemperatur gebracht und der tägliche Kampf mit zu wenig Personal gegen zu viele Gäste konnte beginnen.
Heute sieht es nur unwesentlich anders aus. Gleich nach dem Aufwachen und dem Fluchen über zu wenig Schlaf werden, noch im Bett liegend, mit dem Handy die Emails gecheckt, dann im Facebook geschaut, was die Kollegen so gemacht haben, und dann wird erst der erste Kaffee getrunken. Der tägliche Kampf findet auch nicht mehr mit zu wenig Personal gegen zu viele Gäste statt. Heute findet der Kampf mit zu wenig Personal gegen zu viele Buchhalter, behördliche Bestimmungen und Controller statt. Gäste werden in diesem System untergeordnet behandelt.
Es gibt durchaus noch Betriebe, die sich über Gästemangel nicht beschweren können. Verkehrsgünstig gelegene Tagungshotels, Großstadthotels, die internationalen Buchungsketten angehören, Ausflughotels mit ausgezeichneten Lagen, familiengeführte Unternehmen, die sich diesem Wahnsinn weitestgehend entziehen und sich weiterhin nur um das Wohl ihrer Gäste kümmern. In der restlichen Gastronomie geht der Gästemangel um und gleichzeitig der Controlling-Wahnsinn.
Viele dieser Ereignisse sind auf das Internet zurückzuführen und es wird allerhöchste Zeit, dass der Küchenchef auch ein aktiver Teil des Internets wird. Emails checken und in Facebook surfen reicht schon lange nicht mehr.

Gehen wir dieses Problem chronologisch an.
Zuerst einmal war das Internet wissenschaftlich geplant – der Austausch von Informationen an Universitäten. Durch das Internet wurden wissenschaftliche Informationen für jedermann zugänglich, die vorher nur in wissenschaftlichen Fachzeitschriften abgedruckt wurden und nur einer hochprofessionellen Elite zugänglich waren. Seit dem Internet kann sich aber jeder über sein Wohl und Weh selbst im Internet informieren. Hier werden ungefiltert Ursache und Wirkung vermischt. Ohne einen Profi zur Hilfe zu nehmen, doktert jede Privatperson und jeder Journalist, ohne Ahnung von der Materie zu haben, im Internet herum. Hier findet man auf jedes Problem und auf jede Krankheit eine komplizierte medizinische Erklärung und eine einfache Erklärung. Die erste passt vermutlich, jedoch müsste für die Behandlung ein Arzt ins Boot geholt werden. Die zweite ermöglicht, dass man sich selbst gut behandeln kann und die man auch einfach verbreiten kann. Irgendwie sind Lebensmittel, bei den einfachen Problemlösungen, immer die Auslöser aller Leiden. Proteine sind genauso schädlich wie Kohlehydrate und Fette sind ganz böse. Gluten ist sowieso ungenießbar und Laktose lässt meinen Darm explodieren. Für jeden Pups findet man im Internet ein Nahrungsmittel der ihn verursacht. Und die Fülle der Informationen, die bestimmt zu 90 % überhaupt nicht auf den Informationssuchenden zutreffen, hinterlässt das verheerende Halbwissen, dass Essen krankmacht.
Dagegen steht die weitaus richtigere Information, dass eine ausgewogene Ernährung das Beste ist, was man seinem Körper antun kann. Die Information, dass Essen Gift ist, lässt sich pressetechnisch wesentlich besser umsetzen und verkaufen als die Information, dass Essen gesund ist. Eine weitere Information, die besagt, dass das Genießen der stärkste bekannte Reiz der Belohnung ist und dass die Belohnung die gesündeste Nahrung für unsere Psyche und unser Seelenleben ist, wird in dieser Diskussion gänzlich unter den Teppich gekehrt. Man will es dem geneigten Leser ja auch nicht zu kompliziert machen.
Das Resultat einer solch einseitig geführten Diskussion ist dramatisch. Ein Volk von Hypochondern, die mit schlechtem Gewissen in ein Restaurant gehen, um dort wenigstens ein wenig laktoseintolerant oder glutenunverträglich, aber zumindest low carb zu dinieren. Natürlich vegetarisch oder noch besser vegan.
Wer diese Entwicklung mit offenen Augen verfolgt, der weiß, dass man diesen Teufel nur mit dem Beelzebub austreiben kann. Es wäre ein Einfaches, alle diese verunsicherten, armen Geschöpfe eines Besseren zu belehren, indem man sie einmal am köstlichen Nektar der Haute Cuisine kosten lassen würde. Sie mit Köstlichkeiten zurück auf den richtigen Weg zu führen, wäre der Königsweg. Aber hier kommen wieder die Buchhalter und Controller ins Spiel. Auch sie sind mittlerweile im Rausch des Internets auf perversere Ideen gekommen, dem Küchenchef immer mehr Hindernisse auf den richtigen Weg zu legen. Wenn in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts und in den 2000er Jahren die unsägliche Foodkost, die 30 % auf keinen Fall überschreiten darf, jedem Küchenchef schon schlaflose Nächte bereitet hat, ist die Weiterentwicklung über das E-Procurement das endgültige Garaus der guten Küche. Bei diesem System, loggen sich die Kunden über ein spezielles Programm direkt in die Computer ihrer Lieferanten ein. Ein teurer Dienstleister macht das möglich. In der heilen Welt der Dienstleister, die solchen Service teuer verkaufen, kann der Küchenchef dann an seinem Computer sehen, welcher seiner Lieferanten welches Produkt am preiswertesten anbietet.
In der Praxis ist es aber leider so, dass das schlechteste Produkt, das preiswerteste und das beste Produkt das teuerste ist. Erdbeeren sind nicht gleich Erdbeeren und auch ohne E-Procurement konnte der Küchenchef schon zwischen topfrischen, unbehandelten Erdbeeren aus der Region für 4,99 € oder den gammabestrahlten, neun Tage alten Zwergen in Schutzatmosphäre für 1,99 € wählen. Nur hatte er damals den Lieferanten am Telefon, der das erklären konnte. In der Welt der E-Procurement Dienstleister spart man am meisten dadurch, dass man den Küchenchef zwingt, nur noch über das System zu bestellen. Das ist auch sehr wichtig für den Vertreiber der Software, denn wenn der vernünftige und pflichtbewusste Küchenchef wüsste, was ihn erwartet, würde er so einen Mist natürlich nicht kaufen und das ganze System würde sich nicht rechnen. Also zwingt man den Küchenchef in dieses System. Und jedes Mal, wenn der Küchenchef im System nicht das günstigste Angebot gekauft hat, geht beim Controller ein rotes Licht an und der Küchenchef muss sich rechtfertigen. Das macht mürbe. Man findet sich also mit den schlechteren Produkten ab und liefert natürlich ein schlechteres Ergebnis als nötig.
Kommen wir wieder zurück zum Internet. Prinzipiell ist das Internet ein wahrer Segen. Es entmündigt die Meinungsmacherei der Industrie durch permanenten Einsatz von Werbung und behindert den Lobbyismus der Konzerne. Der mündige Bürger kann sich über das Internet nicht nur informieren, er kann sich auch in Foren und in sozialen Netzwerken mitteilen. Schritt für Schritt geht die bereits bestehende Macht des Verbrauchers auch in die Hände des Verbrauchers über. In dieser Situation wäre es als Unternehmer das Klügste, was man machen kann, auf den Verbraucher zu hören, und ihm das zu liefern, was er sich wünscht. Und die Wünsche der Kunden, im Falle der Gastronomie der Gäste, sind so einfach, dass man es kaum glaubt. Der Gast wünscht sich ein gutes Produkt zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis. Punkt. Er wünscht sich kein durchschnittliches Produkt. Das hat er in der Kantine oder Zuhause zur Genüge. In der Gastronomie wünscht er sich ein gutes Produkt. Je besser das Produkt, desto höher die Anzahl der Gäste, solange man das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht aus den Augen verliert.
In diesem Moment grätschen aber vielfach die Controller, die Buchhalter und die Vertriebsleute der E-Procurement Programme dazwischen. Mit dem Versprechen auf eine noch geringere Foodkost werden nicht nur bestehende Gäste durch die mittelmäßige Qualität vergrault. Die Blogs im Internet sorgen obendrein dafür, dass keine neuen Gäste kommen, um das Haus kennenzulernen.
Hiermit ist Schritt eins in Sachen Internet schon klar definiert. Man muss als ambitionierter Koch erst mal rausfinden, was die Restaurants machen, die im Netz in den Himmel gelobt werden und dann muss man es genauso machen. Sie können sich zu 100 % sicher sein, dass keins der viel gelobten und erfolgreichen Restaurants ein E-Procurement Programm zur Warenbeschaffung besitzt oder nutzt. Auch die Food Cost wird in solchen Betrieben meist erst am Ende des Jahres herausgefunden. Da diese Gastronomien nicht für Prozente, sondern für Erlöse arbeiten, interessiert diese Zahl auch nicht sonderlich. Hier hat man gelernt, dass man nur Geld zur Bank tragen kann und keine Prozente.
Der zweite Schritt ist etwas anspruchsvoller. Hierzu muss man wissen, dass es eine Liste mit 10 Punkten gibt, weshalb Ausländer Deutschland besuchen sollen. Diese Listen werden von ausländischen Zeitungen recherchiert und zusammengetragen, die sich als Meinungsmacher manifestiert haben. Laut „Telegraph“ sind die aktuellen zehn Gründe Deutschland zu besuchen: Das Bier, die Autos, das Brot, die Berge, die Bauwerke Ludwig IVX, der Humor (ja, wirklich), klassische Musik, die Weihnachtsmärkte, die Strände der Nord- und Ostsee und die Szene in Berlin.
Kulinarik? Fehlanzeige. Auch Brot und Bier werden, wegen der heutigen Entwicklung (Backshops und Brauereisterben), wohl bald von dieser Liste getilgt. Können Sie sich vorstellen, wie diese Liste aussieht, wenn es um Länder wie Frankreich, Italien oder neuerdings Skandinavien geht? Und das, obwohl Deutschlands Küchenelite sich emanzipiert und eine wunderbare, eigenständige Küche kreiert hat. Dummerweise weiß das außerhalb von Deutschland noch keiner.

Eine zweite, sehr interessante Statistik gibt einen Trend wieder, der in diesem Zusammenhang sehr wichtig sein kann. Die Studie wurde von Capgemini, einer internationalen Unternehmensberatung mit 130.000 Mitarbeitern und 10 Milliarden Umsatz, in Auftrag gegeben. Sie gilt als äußerst seriös. In dieser Statistik geht es um das Einkaufsverhalten der Verbraucher von Konsumgütern in Deutschland. Der Anteil von Billigprodukten ist demnach von 28 % im Jahr 1973 auf 40 % im Jahr 2010 gestiegen. Gleichzeitig ist der Anteil hochwertiger Spitzenprodukte von 23 % in 1973 ebenfalls auf 40 % im Jahre 2010 gestiegen. Was auf der Strecke geblieben ist, ist das mittlere Preissegment. Waren es 1973 noch 49 % und damit fast die Hälfte aller Güter, so waren es 2010 nur noch magere 20 %. Und das spiegelt genau das wider, was den größten Fehler der Gastronomie manifestiert – die Durchschnittlichkeit und die Mittelmäßigkeit, die manchmal auch noch vom Buchhalter verordnet wird. Leider ist diese Studie nicht mehr weitergeführt worden. Ich bin aber sehr sicher, dass die Tendenz bis heute anhält, wenn auch leider zu Gunsten der Billigprodukte, zu Lasten der Spitzenprodukte.

Was ist jetzt also der zweite Schritt? Ist der erste Schritt gegangen, das heißt, man hat sich von der Mittelmäßigkeit verabschiedet und man bietet dem Gast ein Erlebnis auf dem Teller, dann muss man dafür sorgen, dass der Gast, der aktuelle und der potentielle, das erfährt. Ich hatte anfangs behauptet, dass das Internet die Macht in die Hände der mündigen Bürger legt. Das ist auch richtig so. Der mündige Bürger liebt aber auch den David und er hasst den Goliath. Das bringt eine Situation zustande, die das Ende aller Not sein könnte. Das Internet ist ein virales Netz. Ein „Post“, eine Mitteilung, ein kleiner Film oder ein Foto kann sich, wenn es interessant oder amüsant ist, millionenfach im Internet verbreiten. Das gilt für Mitteilungen von Industriekonzernen und Supermarktketten (supergeil) genauso wie für Privatpersonen, Kleinfirmen oder Gastronomen.

Die Aufgabenstellung, die daraus erwächst, ist zum einen, den eigenen Betrieb bekannt zu machen. Aber Vorsicht! Das Internet unterstützt gute Aktionen, hohe Qualität und eingehaltene Versprechen. Es entlarvt aber auch üble Qualitäten, überhöhte Preise und Schwindeleien. Was jedoch genauso wichtig ist wie die Eigenwerbung, ist die Arbeit für das Projekt. Und das Projekt muss lauten, dass man es schaffen muss, über das Internet mehr Menschen dazu zu bewegen, hochwertige Spitzenprodukte auch in der Gastronomie zu konsumieren, sich von der Verunsicherung durch die Medien zu befreien und, verdammt noch mal, öfter auswärts zu essen.
Kann es denn etwas Erstrebenswerteres geben, als die besten Speisen und die feinsten Weine an den tollsten Plätzen der Welt gesund zu genießen? Nein, gibt es nicht. Es gibt aber niemanden, der diese wunderbare Message verbreitet, und es gibt auch niemanden, der das deutsche Küchenwunder unseren ausländischen Gästen erklärt und sie darauf vorbereitet. Das ist jetzt natürlich nicht die Aufgabe eines Kochs. Das ist die Aufgabe, aber auch die Chance aller Köche, die sich hier auftut. Hier sind die Köche aufgefordert, ihre Internetaktivitäten über Facebook hinweg zu erweitern. Hier ist der Punkt, wo man nicht nur Mitläufer, sondern Aktivist werden muss und sollte. Die Bündelung der Energien auf einer Plattform, in der alle ambitionierten Köche ihren Platz finden, ist der richtige und wichtige Schritt, die aktuellen Probleme, wie Personal- und Gästemangel, Desinformation und mangelnde Brancheninformationen zu entkräften. Es ist eine Vision, aber eine gute Vision. Auch wenn dazugehört, dass der Küchenchef nach dem Aufwachen, dem dazugehörigen Fluchen, dem Checken der Emails auch ein wenig Netzwerken wird. Für eine gute Branche in einem guten Land.

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